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Afrikas „Kinderwettlauf“ – und das Leiden der Frauen

Nirgends bekommen Frauen so viele Kinder wie in Afrika. Im Niger liegt die Geburtenrate bei fast acht Kindern. Das führt nicht nur zu Überbevölkerung und Armut – sondern zu gesundheitlichen Leiden.

Auf der Terrasse einer kleinen Vorstadtvilla in Niamey, der Hauptstadt des Niger, sitzen drei Frauen ganz versunken ihre Arbeit. Geschickt treten sie die Pedale der Nähmaschinen und ziehen eine Naht nach der anderen in einen knallgelben Stoff mit blauen Streifen. „Wir produzieren hier Taschen, Schals und Tücher, um über ihren Verkauf etwas dazuzuverdienen“, erklärt Salamatou Traoré, eine 70-jährige Frau, die in ihrem hellblauen traditionellen Gewand 20 Jahre jünger wirkt. „Aber das Wichtigste unserer Produktion ist das hier“, wirft sie ein und zeigt auf einen Stapel von bunten Binden und Gummiunterhosen. „Das bekommen die Frauen von uns als Sofortmaßnahme.“
Madame Traoré, wie sie von allen respektvoll genannt wird, ist die Gründerin von Dimol, einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit über drei Jahrzehnten um Frauen mit Geburtsfisteln kümmert. Das sind Löcher im Geburtskanal, die oft nach tagelangen Wehen entstehen, wenn der Kopf des Fötus auf das mütterliche Gewebe drückt und dieses dann abstirbt. „Eine der gravierendsten Folgen davon ist Inkontinenz“, erklärt Madame Traoré. „Und deswegen gelten Frauen als unrein und werden sozial ausgegrenzt.“
In Niger, dem ärmsten Land der Welt, das aber gleichzeitig die höchste Geburtenrate hat, ist das Problem besonders groß. Es gibt so gut wie keine medizinische Versorgung für Schwangere. Laut Statistik der Weltbank kommen auf 1000 Menschen gerade einmal 0,2 Ärzte – zum Vergleich: In Deutschland sind es 4,1.
„Viele Zehntausende Frauen leiden an Geburtsfisteln“, wie die Leiterin von Dimol sagt. Aber auch in anderen afrikanischen Ländern ist die Erkrankung ein Problem. In Uganda sollen, laut Regierungsangaben, zwischen 100.000 und 120.000 Frauen betroffen sein. „Die Faktoren sind überall ähnlich“, glaubt die als Hebamme ausgebildete Traoré. „Neben den nicht vorhandenen medizinischen Einrichtungen ist es ein Mix aus einer hohen Geburtenrate, Armut, einem miserablen Bildungssystem und rückwärtsgerichteten Traditionen wie die Polygamie, der dafür verantwortlich ist.“ Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden weltweit rund zwei Millionen junge Frauen an der Erkrankung. Jedes Jahr sollen zwischen 50.000 und 100.000 hinzukommen.

Es fehlt an medizinischer Hilfe – und Weitsicht

Die Villa von Dimol ist nicht sehr geräumig. Neben einem ärztlichen Behandlungsraum gibt es ein kleines, vollgestelltes Büro, zwei Schlafzimmer mit insgesamt 15 alten Metallbetten, einen Aufenthaltsraum, Bad und Toilette. „Im Jahr können wir 60 Frauen helfen“, sagt Madame Traoré. „Dafür reizen wir unsere Mittel bis übers Limit aus, denn die sind eigentlich nur für 20 Frauen vorgesehen.“ Der größte Anteil an Zuschüssen für Dimol kommt von der britischen Hilfsorganisation Oxfam.
Eine der Näherinnen auf der Terrasse des Dimol-Hauses ist die 36-jährige Mamatan. Sie hat fünf Geburten hinter sich, zwei Kinder kamen tot zur Welt. Rund zwei Tage dauerten die Wehen, und nur mit Glück überlebte die Frau. Sie wurde von Dimol-Mitarbeitern in Vandu entdeckt, einem Dorf rund 125 Kilometer von Niamey entfernt. „Ich war sehr unglücklich“, erzählt Mamatan. „Niemand wollte mit mir noch etwas zu tun haben.“ Selbst ihr Mann habe sich von ihr distanziert. „Nach der ersten Totgeburt und der beginnenden Inkontinenz ging es noch“, sagt sie weiter. „Aber nach der zweiten Fehlgeburt war es ganz aus.“
Mamatans Geschichte ist typisch für die Ausgrenzung von Frauen mit Inkontinenz. Sie sind Ausgestoßene der Gesellschaft. Ein operativer Eingriff kann das ändern. Mamatan kann wieder ein normales Leben führen. Und ohne die Organisation von Madame Traoré hätte Mamatan nie erfahren, dass ihr Leiden heilbar ist. Wie die meisten der betroffenen Frauen hatte Mamatan geglaubt, ihr Schicksal sei gottgewollt.
„Aber die Operation hat nicht immer Erfolg“, erläutert Madame Traoré. Sie zeigt auf eine andere Frau, die auf ihren vierten Operationstermin wartet. „Die Fisteln sind nicht einfach so zu reparieren, wie manche glauben.“ In einigen Fällen brauche es viel Geduld. Es sind etwa 150 Operationen, die Dimol pro Jahr organisiert. „Bezahlt werden sie vom Staat“, berichtet Traoré zufrieden. „Die meisten unserer Frauen könnten sich einen Eingriff kaum leisten, und schon gar nicht mehrere.“ 
Wenn Mamatan nun in ihr Dorf zurückkehrt, wird es ein großes Fest geben, sagt sie lachend und voller Stolz. Sie bekommt ihr Leben zurück – und wünscht sich noch mehr Kinder, am liebsten hätte sie acht. Laut Weltbank beträgt die Geburtenrate pro Frau 7,6 – das ist die höchste der Welt. In ganz Afrika liegt die Zahl der Geburten pro Frau in etwa bei vier. In fast allen anderen Weltregionen ist sie in den vergangenen Jahrzehnten auf zwei gesunken.
Mit ihren drei Kindern ist Mamatan nämlich im Hintertreffen im Vergleich zu den zwei anderen Ehefrauen ihres Mannes. „Eine Erbschaft ist oft Anlass für die Konkurrenz zwischen den Ehefrauen“, berichtet Madame Traoré. Jede wolle mehr Kinder als die anderen. Nachwuchs bedeute außerdem mehr Arbeitskraft, mehr Geld und größere ökonomische Macht.

„Natürlich trägt die Polygamie einen Großteil der Schuld“

„Aber das ist letztendlich ein fataler Irrtum“, sagt sie. Denn viele Frauen müssten einen hohen Preis für den „Kinderwettlauf“ bezahlen. „Wie viele sterben im Kindbett? Wie viele leiden an Fisteln und anderen Krankheiten? Wie viele verlieren ihre Babys?“ In Niger gebe es keinerlei Familienplanung, so Traoré. „Und das wird auch noch lange so bleiben, wenn die Ignoranz nicht endlich eine Ende nimmt.“ Grund für die Ignoranz sei die mangelnde Bildung von Frauen, für die keine ausreichende Schulpflicht bestehe. „Sie werden schon im Alter von zwölf bis 15 Jahren zwangsverheiratet, müssen Kinder kriegen und im Haushalt arbeiten.“ Für Schule, Lesen und Schreiben bliebe da keine Zeit.
„Natürlich trägt die Polygamie einen Großteil der Schuld“, regt sie sich auf. „Und die wird obendrein von religiösen Führern unterstützt.“ Dabei sei es doch klar, dass der Koran die Polygamie nicht bedingungslos rechtfertige. „Oft können die Männer nicht einmal eine Frau und ihre Kinder ernähren“, sagt Traoré. „Aber sie nehmen noch eine Frau, obwohl das dem Koran widerspricht.“ Sie selbst ist die einzige Frau ihres Ehemanns und hat fünf Kinder.
Im Gegensatz zu anderen Staaten Westafrikas hat Niger kein Familiengesetz. „Wir haben keine Gesetzesgrundlage, nichts, außer die Scharia.“ Das sei ein Desaster, so Madame Traoré. Für die lebenserfahrene Frau ist klar, was getan werden sollte: „Es muss eine Gesetzgebung her, die Zwangs- und Kinderehen verbietet. Wir brauchen die Schulpflicht von Mädchen und eine strikte Familienplanung.“ Gerne wäre Madame Traoré Familienministerin. Aber die Widerstände auf allen Ebenen der Politik, Religion und Gesellschaft gegen einschneidende Reformen seien zu groß. Sie habe schon Drohungen erhalten, doch die machten ihr nichts aus. „Ich drohe den anderen, da sollen sie nur aufpassen“, ruft die Frau lachend, bevor sie resigniert festhält: „Es dauert mindestens noch eine Generation, bis sich in Niger etwas verändert.“

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